Kommentar
Am 16. April diesen Jahres sind die Bürgerinnen und Bürger der Türkei aufgerufen, über eine Verfassungsänderung abzustimmen, die dem amtierenden Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan die Ausweitung seiner Machtbefugnisse zubilligen soll. Das türkische Parlament hatte bereits am 21. Januar in zweiter Lesung mit den Stimmen der AKP und der ultrarechten MHP der umstrittenen Verfassungsänderung zugunsten des Staatsoberhaupts zugestimmt. Die Reform sieht unter Anderem vor, dass das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft wird. So soll der Staatspräsident die Regierungsgeschäfte leiten und ohne Zustimmung des Parlaments Minister ernennen und entlassen können. Justizminister Bekir Bozdag von der regierenden AKP twitterte am 21. Januar: „Die Tür einer neuen Ära in der Geschichte der Türkei hat sich geöffnet“1. In einem weiteren Tweet schreibt er: „Bei einem ‘Ja’ unserer Nation wird sich diese Tür vollständig öffnen“2. Kritiker und Opposition sind sich jedoch einig: Mit dieser Verfassungsänderung wird die Tür zu einer Ein-Mann-Herrschaft geöffnet.
Im Vorfeld der Volksabstimmung zur Änderung der türkischen Verfassung hin zu diesem Präsidialsystem a la turca wird nun seit ein paar Tagen darüber spekuliert, wie die Kurden abstimmen werden.
Obwohl die prokurdische, säkulare HDP, zweitstärkste Oppositionspartei im türkischen Parlament, und weitere kurdische Parteien sich bereits mehrfach öffentlich zum „NEIN“-Lager (also Nein zur Verfassungsänderung) bekannt haben, wird von kemalistischen und nationalistischen Kräften über deren Medien versucht, das „NEIN” der Kurden zu verwässern.
So verbreitet Meral Akşener, Konkurrentin des amtlich bestätigten „JA“-Sagers Devlet Bahceli und Parteivorsitzender der mit Erdogan kollaborierenden ultranationalistischen MHP, das Gerücht, die Kurden planten das Referendum zu boykottieren, was einem „JA“ zur Verfassungsänderung gleich käme.
Die säkular-nationalistischen Medien sind nicht ganz so offenherzig und verpacken ihre Zweifel an der kurdischen Haltung zum Referendum zwischen den Zeilen. In einem Artikel des „odatv“3 wird speziell auf einen Paragraphen eingegangen, der nach Ansicht des Autors dem künftigen allmächtigen Präsidenten erlauben würde, die Türkei in einen föderalen Staat zu „zerschlagen“. Dieser Passus ist anscheinend so versteckt, dass nur Fachleute den eigentlichen Zweck des betreffenden Paragraphen erfassen könnten. Untermauert wird dies vom Autor mit einem Interview aus dem Jahr 2013 – der Friedensprozess mit den Kurden war da noch im Gange – in dem Erdogan sagte, dass er sich auch eine föderale Türkei vorstellen könne. Für das Rechts- und Mitte-Rechts-Lager kommt eine dezentrale Türkei quasi einer Auflösung der Nation gleich. Da die kurdische Bewegung zwar nicht mehr für ein unabhängiges Kurdistan, aber für eine Selbstverwaltung kämpft – also für ein dezentrales System – wird schnell klar, welcher subtile Zusammenhang zwischen dem zitierten Paragraphen und der Haltung der Kurden zur Verfassungsänderung hergestellt werden soll. Der hyperventilierende Stil des Textes, in dem „föderal“ 15 mal vorkommt und Wörter wie „Teufelswerk“, „Zeitbombe“, „Aufteilung“ und „Kurdistan“ platziert sind, dürfte wohl bei Nationalen und Ultranationalen Endzeitstimmung auslösen. Die türkische Anwaltskammer jedoch hat auf ihrer Webseite eine Zusammenstellung der zur Disposition stehenden Verfassungsparagraphen mit Erläuterung veröffentlicht, aber keinerlei derartigen Schlüsse in Bezug auf einen versteckten „Föderalismusparapraphen“ gezogen4.
Am 29. Januar wurde in einem rechtsextremen Onlinemedium ein Berater Erdogan’s mit folgenden Worten zitiert: „Wir brauchen ein föderales System. Türkisch soll als Zweitsprache möglich sein“5. Dass die Aussage dieses Beraters, ein Ex-General namens Adnan Tanriverdi, vom August 2016 stammt und nicht im Zusammenhang mit dem anstehenden Referendum zu verstehen ist, wird im Artikel großzügig unterschlagen. Was beim Leser ankommen soll, ist die Überschrift: Kurden werden „JA“ sagen.
Diese absurden Behauptungen fallen in der Türkei auf fruchtbaren Boden. Das war bei bekennenden ultrarechten Türken durchaus zu erwarten, überraschte mich jedoch bei säkularen Türken, die sich gerne als gebildet wähnen. Mehr als einmal habe ich in den sozialen Medien Kommentare der säkularen Bildungselite gelesen, die darauf schließen lassen, dass die Saat dieser medialen Gerüchteküche aufgegangen ist – gehen doch anscheinend viele nun davon aus, dass DEN Kurden nicht zu trauen ist und sie der Verfassungsänderung entweder direkt oder durch Boykott des Referndums indirekt zustimmen werden. Zwar wählen nicht wenige sunnitische Kurden auch die AKP. Der weitaus größere Teil der kurdischen Bevölkerung, politisch vertreten durch Parteien wie HDP, DBP, HDK und DTK, wird sich dennoch an das „NEIN“ halten. Aber auf Basis von „Alternativen Fakten“, die es in der Türkei schon lange vor der Geburt von Trump gab, wird im Vorhinein der Boden für einen möglichen Sündenbock bereitet, sollte die Verfassungsänderung vom Volk angenommen werden. Hier bietet sich die ethnische Minderheit der Kurden an, die nach Ansicht der Rechtsextremen und National-Säkularen schon immer ein Gegner der türkischen Nation war.
Selbst in so einer sensiblen Lage, in der es um die Zukunft ihrer „heiligen“ türkischen Republik geht, scheint Teilen der „Opposition“ nichts an einer gemeinsamen Strategie mit den Kurden zu liegen. Sie riskieren mit ihrer tief sitzenden, jahrzehntelang kultivierten Kurdenphobie, genau das, was sie zu verlieren fürchten. Wer jetzt noch rassistisch motivierte politische Intrigen und Spielchen treibt, dem ist aus meiner Sicht nicht mehr zu helfen. Der muss wohl in einer Präsidialdiktatur lernen, wie demokratischer Konsens funktioniert.
– Ülkiye Ispirli –
1 https://twitter.com/bybekirbozdag/status/822637520315969538
2 https://twitter.com/bybekirbozdag/status/822614205501206529
3 http://odatv.com/turkiye-eyaletlere-bolunuyor-0202171200.html
4 Türkische Anwaltskammer – Vorher/Nachher, Vergleich der Paragraphen http://anayasadegisikligi.barobirlik.org.tr/Anayasa_Degisikligi.aspx
5 Habererk — Link http://www.habererk.com/gundem/cumhurbaskani-basdanismanindan-flas-aciklama-eyalet-sistemi-getirilmeli-h25992.html